Frau Leicht-Scholten, wie steht es in den Ingenieurs-Berufen um Diversität und Gleichberechtigung?
Leider lässt sich die Frage nicht so einfach beantworten, da hier nach unterschiedlichen ingenieurwissenschaftlichen Berufsfeldern unterschieden werden muss. Insgesamt sehen wir einen Anstieg von erwerbstätigen Ingenieurinnen von 205.000 im Jahr 2005 auf 312.900 im Jahr 2018 (die Zahlen werden vom Institut der Deutschen Wirtschaft regelmäßig für den VDI erhoben). Allerdings steigt der Anteil an berufstätigen Ingenieurinnen sehr gemächlich: Er liegt in Deutschland bei 18 Prozent - damit liegt Deutschland unter dem EU-Durchschnitt, der bei 19.7 Prozent liegt. Diversität und Gleichberechtigung zielen allerdings nicht nur auf Geschlechterdimensionen ab, sondern auch auf Dimensionen wie soziale und ethnische Herkunft, Alter, geistige und körperliche Fähigkeiten, sexuelle Orientierung usw. Jede*r siebte Ingenieur*in in Deutschland ist zugewandert. Leider gibt es zu den meisten Diversitätskategorien allerdings keine Statistiken.
Welche besondere soziale Verantwortung besitzen Ingenieure gegenüber anderen Berufsgruppen?
Ingenieurwissenschaftliche Artefakte und Infrastrukturen beeinflussen unseren Alltag und damit auch unsere Gesellschaft. Sie verändern unsere Mobilität, unsere Kommunikation, unser Zusammenleben. Technische Innovationen werden damit zu einem Treiber für sozialen Wandel. Die Verantwortung von Ingenieur*innen kann sich nicht ausschließlich auf die rein technischen Fragen beschränken. Ingenieur*innen sind gefordert, auch mit Fachfremden zu diskutieren, die ohne fachliche Expertise die gesellschaftliche Reichweite technischer Innovationen beurteilen. Es gilt in den Diskurs mit denjenigen zu gehen, die in ökonomischer, politischer oder gesellschaftlicher Hinsicht Entscheidungen über Technik treffen. Dafür sollte früh ein Bewusstsein bei Ingenieur*innen geschaffen werden, am besten bereits während des Studiums im Rahmen von Lehrveranstaltungen, die sich mit sozialer Verantwortung und Technikentwicklung befassen und Möglichkeiten der Reflektion des eigenen Selbstverständnisses bieten.
Was zeichnet verantwortungsvoll produzierte Produkte aus?
Verantwortlich produzierte Produkte sind nachhaltig produzierte Produkte. Dabei sollten die drei zentralen Säulen von Nachhaltigkeit stets mitbedacht werden; d.h. Produkte müssen so produziert werden, dass soziale, ökologische und ökonomische Aspekte berücksichtigt werden. Wer produziert die Produkte unter welchen Bedingungen? Nutzen die Produkte einer ohnehin bereits privilegierten Schicht oder einer breiteren Zielgruppe, der dadurch bspw. mehr Teilhabe, mehr Lebensqualität ermöglicht werden kann? Welche Ressourcen werden für die Produktion verwendet? Welche Auswirkungen haben diese Materialien auf das Ökosystem? Wie langlebig ist das Produkt? Wie kann es entsorgt werden? Wer kann es sich leisten? Die Kommunikation mit unterschiedlichen Gruppen (darunter vielen technischen Laien bzw. fachfremden Personen) gewinnt deshalb im Rahmen der Technikentwicklung eine immer größere Bedeutung.
Sie sind ein Verfechter des "Responsible Research and Innovation"-Prozesses (RRI). Welche Vorteile bietet dieser Prozess und wie lässt er sich von Unternehmen adaptieren?
RRI ist ein Konzept für eine umfassende politische Strategie, mit der vielfältige Akteursgruppen – von Bürger*innen bis zu Wissenschaftler*innen – an Innovationsprozessen beteiligt werden, um sozial verantwortliche und nachhaltige Forschung und Innovationen voranzutreiben. Der RRI-Prozess fokussiert zudem darauf, Wissenschaft aus dem viel beschworenen Elfenbeinturm zu holen und die Gesellschaft stärker in die Forschung miteinzubeziehen. Zahlreiche wissenschaftliche Studien bestätigen die positiven Auswirkungen von Diversität auf kreative, innovative Prozesse. Je vielfältiger also die Gruppe ist, die ein Produkt entwickelt, desto mehr Perspektiven können bestenfalls in den Entwicklungsprozess miteinbezogen werden. Das Endprodukt ist idealerweise von einer breiteren Zielgruppe nutzbar, als wenn eine sehr homogene Gruppe das Produkt entwickelt hätte. Diversity Management ist für viele Unternehmen Teil der Unternehmensstrategie. Für Unternehmen könnte das heißen, verstärkt auf „User driven Innovations“ zu setzen und neben Expert*innen auch verstärkt andere Gruppen in die Produktentwicklung einzubeziehen.
Welche Trends werden in der Ingenieurs-Branche in den nächsten Jahren einen zunehmenden Stellenwert erhalten?
Das Weltwirtschaftsforum hat für 2018 u.a. künstliche Intelligenz und Robotik, Biotechnologie, Automatisierung und Cybersicherheit als zentrale Themen identifiziert und auch darauf hingewiesen, welchen Risiken damit global verbunden sein können. Auch hier wird deutlich, dass Technologieentwicklung und soziale Verantwortung zusammengehören.
Zur Person Frau Prof. Dr. Carmen Leicht-Scholten besetzt an der
RWTH Aachen die Brückenprofessur „
Gender und Diversity in den Ingenieurswissenschaften“. Sie studierte Politische Wissenschaften, Soziologie und Romanistik und promovierte 1998 an der Universität Hamburg. Leicht-Scholten ist Gutachterin für die Europäische Kommission im Horizon 2020-Projekt. Sie ist auch Mitherausgeberin der Zeitschrift „
Gender“.